Die Shuni-e Zeremonie

Die Shuni-e Zeremonie in der Nigatsu-dô ist auch unter dem Namen „Omizutori“ bekannt. Sie wurde zum ersten Mal von einem Schüler des Tôdai-ji Gründers Rôben, Jitchû, im Jahre 752 ausgeführt und war formell eine Zeremonie der Reue, bei der man für die eigenen Missetaten vor dem Bildnis einer elfköpfigen Kannon, dem Bodhisattva der Barnherzigkeit, Buße tut. Durch die uns Menschen eigenen drei Gifte – Begierde, Wut und Unwissenheit – begehen wir ständig Sünden, die den Geist verunreinigen, sodaß wir den richtigen Weg nicht mehr sehen oder gar krank werden. Durch die Zeremonie kann man die eigenen Vergehen bereuen, einen reinen Körper und Geist bekommen, das Unglück und Leid, das man durch schlechte Taten auf sich zieht, entfernen und Wohlergehen erlangen. Zwar nennt man die Shuni-e eine Zeremonie der Reue, im Altertum jedoch wurde sie als ein religiöses Ritual zunutzen des Staates ausgeführt. Man dachte, daß Naturkatastrophen, Epedemien oder Aufstände Krankheiten des Staates seien und betrachtete dieses Ritual als ein Mittel, womit man diese Krankheiten heilen, sowie Frieden auf Erden und eine gute Ernte erlangen, kurz gesagt, das Wohlergehen der Menschen erreichen könne.
Für diese Sündenvergebungszeremonie für Staat und Menschen war eine besondere Gruppe Ausführender und ein groß angelegter Ritus notwendig, so erdachte man für dieses Ritual einen besonderen Dienst mit vielen Mönchen. Auch die Shuni-e Zeremonie entstand als ein solches Ritual. Die teilnehmenden Mönche heißen Rengyôshû, derzeit sind es elf Personen und jeder erfüllt eine andere Aufgabe. Die oberen vier Ämter umfassen den Wajô, der der Gruppe die buddhistischen Gebote überträgt, den Daidôshi, der die Gebete und den Zweck der Zeremonie vorträgt und als Leiter des Ritus fungiert, den Shushi, der die Heiligkeit des Orts absteckt und beim Rezitieren von Dhârani (geheimen Anrufungen) mit den Händen Mudrâs (symbolische Gesten) formt, den Dôtsukasa, der sicherstellt, daß das Ritual richtig ausgeführt wird und sich um alle anderen Dinge kümmert. Die restlichen sieben Teilnehmer heißen Hirashû. Zusätzlich zu den Rengyôshû gibt es noch viele Assistenten, sodaß insgesamt ca. dreißig Personen an der Zeremonie teilnehmen.
Die Rengyôshû tuen Buße für die Missetaten aller Menschen und bitten Kannon um das Wohlergehen der Menschen. Ihre Funktion ist in vielerlei Hinsicht die von Vermittlern zwischen Kannon und der Welt der Menschen; somit wird ein großes Maß an religiöser Erkenntnis vorausgesetzt.
Die Zeremonie beginnt mit einer Vorbereitungszeit im Kaidan-in vom 20. bis zum 28. Februar, genannt Bekka. Während dieser Zeit gehen die Rengyôshû in Klausur um allmählich den eigenen Körper und Geist zu reinigen. Außerdem bereiten sie das Papier für die nur während der Shuni-e Zeremonie getragenen Papierroben, die kamiko, vor, stellen künstliche Kamelien zur Schmückung des Altares her und üben shômyô, die Rezitation buddhistischer Sutren.
Am Nachmittag des 28. Februar, wenn die Vorbereitungszeit endet, begeben sich die Rengyôshû zur Unterkunft für sich in Klausur befindende Mönche unterhalb der Nigatsu-dô, wo sie während der Zeremonie wohnen werden. Am späten Abend beginnt dann die Hauptzeremonie. Sie dauert zwei Wochen, der erste Abschnitt heißt die Ersten Sieben Tage, die zweite die Letzten Sieben Tage. Jeder Tag wiederum ist in sechs Abschnitte unterteilt: die Mittagswache, die Sonnenuntergangswache, die erste Nachtwache, die Mittlere Nachtwache, die Letzte Nachtwache und die Sonnenaufgangswache, auch die Übungen der Sechs Stunden (Rokuji no gyôbô) genannt. Die in den jeweiligen Zeitabschnitten rezitierten Sutren sind unterschiedlich lang, sodaß auch die Abschnitte zeitlich variieren. Diese Rezitation kann gewissermaßen als eine Art buddhistischer Musik empfunden werden.
Während der ersten Nachtwache wird in alter Tradition das Register mit den Namen der Kami (Jinmyô-chô) vorgelesen. Als Jitchû zum ersten Mal die Übungen der Sechs Stunden abhielt, kamen durch die Anrufung der Kami diese shintoistischen Gottheiten aus dem ganzen Land zur Nigatsu-dô um für den Erfolg der Zeremonie zu beten und sie zu schützen. Nur der Gott O-nyû Myôjin aus Wakasa kam zu spät, weil er gerade angeln war. Die Legende sagt, daß er, als er endlich zur beinahe beendeten Zeremonie kam, so gerührt war, daß er versprach, reines Wasser beizusteuern, um sich für seine Verspätung zu entschuldigen. Daraufhin zerbrach ein Fels, aus dem ein weißer und ein schwarzer Kormoran geflogen kamen und Wasser entsprang der Erde. Seit dieser Zeit sprudelt heiliges Wasser aus der Quelle und so kommt es, daß man nach Mitternacht des 12. Tag im 2. Monat des Mondkalender dieses Wasser aus der Quelle schöpft und Kannon opfert. Durch dieses Element wird das gesamte Ritual auch Omizutori, „Wasserschöpfen“, genannt.
Andere Teile der Zeremonie beinhalten das hashiri, wobei die Rengyûshû ihre Roben aufkrempeln und um das innere Heiligtum herumrennen; ein Feuerritual mit dem Namen dattan, bei dem große Pinienfackeln in der Halle geschwungen werden; das Vorlesen einer Liste von Verstorbenen einschließlich der „Blauen Dame“, die während einer Zeremonie in der Kamakura Zeit erschienen sein und gefragt haben soll, warum sie nicht auf der Liste stehe, sowie andere phantastische Rituale. Die Teilnehmer an dieser Zeremonie werden in eine Zeit von vor 1200 Jahren zurückversetzt.